Nicht selten werde ich gefragt: Gestalttherapie? Was macht man da eigentlich?
(Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die weibliche Form „Gestalttherapeutin“ und die männliche Form„Klient“ verwendet; diese Bezeichnungen umfassen Personen aller Geschlechter.)
Da es zu diesem therapeutischen Verfahren immer wieder Unsicherheiten und Fragezeichen gibt, möchte ich gern ein wenig Licht ins Dunkle bringen und dir eine kurze Einordnung zur Gestalttherapie geben.
Weiter unten findest du außerdem ein konkretes Beispiel, das dir zeigt, wie eine Stunde in der Gestalttherapie praktisch ablaufen kann.
So kannst du dir ein gutes Bild davon machen, wie Gestalttherapie erlebt wird – nicht nur verstanden.
Das gestalttherapeutische Verfahren ist ein psychotherapeutisches Verfahren, welches aus der humanistischen Haltung erwachsen ist.
Grundsätzlich ordnen wir die Vielzahl an Therapieverfahren, die wir hier in Deutschland und darüber hinaus haben, verschiedenen Therapieschulen und -ansätzen zu. Hier sind einmal die wichtigsten aufgezählt:
| Analytisch/ Tiefenpsychologisch | Psychoanalyse | Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie |
| Behavioral/ Kognitiv-behavioral | Verhaltenstherapie |
| Kognitive Verhaltenstherapie | |
| Schematherapie | Systemisch | Systemische Therapie |
| Familientherapie | |
| Humanistisch | Gestalttherapie |
| Gesprächspsychotherapie (nach Rogers) | |
| Psychodrama | |
| Logotherapie/Existenzanalyse | |
| Weitere/ Spezialisierte Ansätze | EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) |
| Hypnotherapie | |
| ... |
Die ersten drei Therapieschulen der Tabelle und daraus resultierenden Verfahren sind Richtlinienverfahren. Das heisst, sie werden von den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland anerkannt und in der Regel über vom Therapeuten abgerechnet. Die humanistischen Verfahren, zu welchen die Gestalttherapie gezählt wird, sind ebenfalls wissenschaftlich anerkannten Therapieverfahren, fallen allerdings nicht in den Erstattungsbereich der Krankenkassen. Anders in Österreich, wo 23 (!) verschiedene psychotherapeutische Therapieansätze von der Krankenkasse anerkennt und bezahlt werden.
Zurück zum humanistischen Verständnis in der Gestalttherapie:
Der Mensch wird, nach dem humanistischen Grundverständnis, als ganzheitlich, autonom und selbstverantwortlich betrachtet. Er steht mit seinem Bezug zu sich und seiner Umwelt im Mittelpunkt der Betrachtungsweise. Entstandene „psychische Störungen“ werden weniger als Defekte oder Pathologien verstanden. Sie entstehen, weil wachstumsfördernde Bedingungen fehlen, z. Bsp., mangelnde Selbstverwirklichung, fehlende Akzeptanz der eigenen Gefühle, gestörte Beziehungen oder Umweltbedingungen. Das Ziel der Gestalttherapie ist die Selbstverwirklichung wieder zu ermöglichen, nicht Symptome zu beseitigen. Die Therapie ist dabei eine Unterstützungsmöglichkeit im Selbstheilungs- und Entwicklungsprozess.
Kurz zu erwähnen ist, dass auch die Gestalttherapeutinnen mit den psychischischen Diagnosen der ICD 10 (international statistische Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation) vertraut sind. Dies wird durch den Abschluss der Heilpraktikerprüfung für Psychotherapie sicher gestellt. Das Diagnosewissen dient für den gestalttherapeutischen Prozess als Orientierung. In der Unterstützung und Begleitung des Klienten stehen jedoch andere Aspekte im Vordergrund.
Was sind die therapeutischen Ansätze in der Gestalttherapie?
Es gibt zwei wichtige Grundaspekte in der Gestalttherapie, die im Therapiesetting wesentlich sind.
1. Die therapeutische Beziehung: Menschen fühlen sich wirklich verstanden und angenommen, wenn ihr Gegenüber dies auch über das Gefühl zum Ausdruck bringt, also nicht nur intellektuell begreift, sondern emotional mitschwingt und Anteilnahme empfindet im Gespräch. Die Gestalttherapeutin bringt ihre Resonanz authentisch und offen zum Ausdruck. Die persönliche Präsenz der Therapeutin hilft dem Klienten dabei Vertrauen zu finden, sich gesehen zu fühlen und dadurch Wachstumsprozesse zu initiieren.
Martin Buber sagte dazu: „Der Mensch wird am DU zum ICH.“
Es sind unsere Beziehungen, die uns zu den Menschen werden lassen, die wir sind. Das heisst, wir sind als Mensch auf andere Menschen bezogen und leben in ständigem Austausch miteinander. Das fängt schon im Säuglingsalter an. Babys können nicht überleben, erhalten sie in der ersten Phase ihres Lebens kein Angebot der sozialen Interaktion und Ansprache. Hier wird deutlich, wie essentiell Kontakt, Beziehung und Zugewandheit ist, um Wachstum und Entwicklung anzustreben.
Martin Buber spricht auch davon: „die Krankheiten der Seele sind die Krankheiten der Beziehung“. Was bedeutet, dass im Umkehrschluss auch heilsame Beziehungen in uns etwas bewirken und uns anders werden lassen können. Die Gestalttherapeutin kann diese, unter Umständen neue Beziehungserfahung, im Kontakt zum Klienten zur Verfügung stellen und dabei Linderung, Stärkung und Heilung ermöglichen.
2. Die Betrachtungsweise des Menschen als gesamte Person:
In den Gesprächen und Übungen mit dem Klienten beziehen Gestalttherapeutinnen immer Körper, Gefühl, Gedanke, Beziehung und Umwelt mit ein. Wir erfahren die Welt und das was uns umgibt, mit all unseren Sinnen. Erfahrungen, die wir machen, werden unmittelbar durch den Körper gespürt und aufgenommen. Wir befinden uns also mit unserem Körper und unseren Sinnen mitten im Leben und das hat spürbare Auswirkungen auf uns. Dies in uns wahrzunehmen mit den daraus resultierenden Bedürfnissen schafft Lebendigkeit, Selbstwirksamkeit und Verantwortung in unserem Handeln und Sein.
Und wie sieht Gestalttherapie nun in der Praxis aus?
Im Vordergrund steht das Erleben (unseres Handelns, Daseins, in Kontakt sein) im Hier und Jetzt. Was nimmst Du im Körper wahr, wenn Du von diesem Gefühl/Gedanke sprichst? Was passiert gerade in Dir? Durch viele Fragen und Anregungen erforschen Gestalttherapeutinnen gemeinsam mit dem Klienten, was gerade in ihm passiert. Gemeinsam wird eine Bewusstheit geschaffen, die dem Klienten seine inneren Erlebnisse besser verstehbar und integrierbar machen.
„Was ist, darf sein, und was sein darf, kann sich verändern.“ (Werner Bock)
Die Gestalttherapeutin versteht sich dabei nicht als allwissende Therapeutin, die Beschriebenes interpretiert. Stattdessen stellt sie ihre Wahrnehmung zur Verfügung, wie ihre gemachten Eindrücke auf sie wirken. Die andere Perspektive auf das Geschehen, welche nicht richtiger oder wahrer ist, kann ein umfassenderes Bild der Problematik schaffen, wodurch sich möglicherweise der Stellenwert einzelner Aspekte verändert und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
Auch können immer wieder Experimente (Nutzen von Ton, Stimme, Gestik, Mimik, Haltung..) unterschiedliche Betrachtungsweisen und innere Regungen erzeugen, die sich förderlich im Therapieprozess auswirken.
Nun aber mal Konkret
Stell dir vor: Du kommst nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause. Eigentlich war gar nichts „Schlimmes“, und trotzdem fühlst du dich gereizt, innerlich leer oder abgeschnitten von dir selbst. Du weißt nicht so recht, warum — nur, dass du dich nach Ruhe sehnst und gleichzeitig keine findest.
In der Gestalttherapie könnte eine Stunde dann so beginnen, dass die Therapeutin dich einlädt, einen Moment innezuhalten. Sie fragt vielleicht: „Wie sitzt du gerade auf dem Stuhl?“ oder „Was nimmst du im Körper wahr, während du davon erzählst?“
Zuerst mag das ungewohnt wirken, denn es geht nicht sofort um Erklärungen, sondern um das unmittelbare Erleben. Du bemerkst vielleicht, dass du die Schultern angezogen hältst oder den Atem flach hältst. Im Kontakt mit der Therapeutin kann daraus ein Gespräch entstehen – über Anspannung, über das Bedürfnis nach Schutz oder den Wunsch, Kontrolle loszulassen.
Die Gestalttherapeutin folgt dabei nicht einem festen Fragenkatalog. Sie spürt mit dir, was gerade lebendig ist, und macht auch ihre eigene Wahrnehmung transparent: „Ich merke, dass ich beim Zuhören selbst den Atem anhalte – vielleicht halten wir beide gerade etwas fest.“
So entsteht ein gemeinsamer Raum, in dem du dich selbst auf eine neue Weise erfährst. Aus dem unklaren Gefühl von Gereiztheit kann dann ein erkennbares Bedürfnis werden – vielleicht nach Nähe, nach Ausdruck oder einfach nach einem Moment, in dem du dich ganz spüren darfst.
„Bewusstheit ist der erste Schritt zur Veränderung.“
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